Donnerstag, 31. Oktober 2024

Wandel, Wende und gute Laune

 "Was wir gerade erleben, ist ein tiefgreifender Wandel in Deutschland", schreibt Gabor Steingart in "Focus". Tja, den Wandel erleben wir mindestens seit dem Mauerfall vor 35 Jahren.

Hier stand "Berliner Mauer 1961 - 1989"

Im alten Korsett


Unterwegs gab es noch die Zeitenwende, die Olaf Scholz verkündete:

"Der 24. Februar 2022 markiert eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents. Mit dem Überfall auf die Ukraine hat der russische Präsident Putin kaltblütig einen Angriffskrieg vom Zaun gebrochen - aus einem einzigen Grund: Die Freiheit der Ukrainerinnen und Ukrainer stellt sein eigenes Unterdrückungsregime infrage. Das ist menschenverachtend. Das ist völkerrechtswidrig. Das ist durch nichts und niemanden zu rechtfertigen."

Steingart interessieren vor allem ökonomische Veränderungen:

"Die Stagnation der Wirtschaft und die Krise bei Volkswagen markieren den Beginn eines tiefgreifenden Wandels. Alte Industrien verschwinden, neue Herausforderungen belasten die deutsche Wirtschaft.

Was das Land als Krise erlebt, ist in Wahrheit der Beginn einer sehr umfassenden Transformation. Viele Gewissheiten der vergangenen Jahrzehnte, die wir vereinfacht „Normalität“ genannt haben, verschwinden vor unser aller Augen im Nebel der Geschichte."

Er beschreibt jedoch die neue Situation mit alten Kategorien und merkt nicht, dass dieses alte Korsett nicht mehr zu den Zukunftsherausforderungen passt.

Muff und Flügel 


Kurzfristig brauchen wir Investitionen, die aber eine langfristige Perspektive haben müssen. Anders gesagt: Wir brauchen Visionäre und Visionärinnen sowohl in der Politik als auch in der Wirtschaft. Und die wachsen nicht zwischen altbackener Ausbildung und der Arbeitswelt und dem Schulwesen, die auf den Gehorsam ausgerichtet sind. 

Unser Gold steckt in der Kreativität der Menschen und jene erstickt im Muff der Bürokratie und Handsteuerung. Wir benötigen ein kluges System der Unterstützung von Talenten, in allen Schichten verstreut, und eine Atmosphäre, in der man sich traut, die Flügel auszubreiten. Daher ist eine Absicherung „nach unten“ notwendig. Das Bürgergeld bedeutet ein Schritt in die richtige Richtung. Im Digitalzeitalter, wenn es in Deutschland irgendwann soweit wird, ersetzt es das Bedingungslose Grundeinkommen.

Bei allen Veränderungen sollen wir „nicht die gute Laune verlieren“. In diesem Punkt gebe ich Steingart recht.

Freitag, 18. Oktober 2024

Gisèle Pélicot und die Scham der Frau

Es war Gisèle Pélicot selbst, also das Opfer, die die Zulassung der Öffentlichkeit im Prozess verlangte. Sie habe schließlich keinen Grund, sich zu schämen. Richtig! 

Figuren am Rathaus in Wrocław

Regeln des Spießrutenlaufs

„Die Scham muss die Seiten wechseln“, sagte sie und wurde dafür gefeiert. Von Feministinnen, erklärten die Medien. Aber wir alle – alle Menschen mit Anstand -, sollten uns bei Frau Pélicot bedanken, weil sie das Thema „Scham“ vom Kopf auf die Füße gestellt hat. 

Denn wir, ob mit oder ohne Anstand, sind dafür verantwortlich, dass sich stets die Opfer verstecken müssen, weil die Regeln, die wir als Gesellschaft aufgestellt haben, das Rücksichtslose bevorzugen und das Schwache verachten. 

Vor Gericht verurteilen wir zwar die Täter (meistens), danach aber bereiten wir den Opfern einen gnadenlosen Spießrutenlauf vor.  

Grammatisch, aber nicht paritätisch

Die Welt ist nur grammatisch weiblich. Frauen werden in dieser Welt benachteiligt. Im Westen natürlich viel weniger als woanders. Dennoch zeigt sich der Abstand zu Herren der Schöpfung auch hier immer noch viel zu groß und in Deutschland noch größer.

Vor diesem Hintergrund erscheint die Aussage von Friedrich Merz über die Geschlechterparität in einer Regierung mehr als merkwürdig.

"Wir tun damit auch den Frauen keinen Gefallen", behauptete Merz neulich.

Was soll das heißen? Dass es mehr inkompetente Frauen gebe als Männer? Oder dass Frauen von Natur aus blöder seien?

Ich wette, dass eine Liste der Gegenbeispiele unendlich lang wäre.  

Merz' Ablehnung der Parität lässt sich nicht durch seine christlich-konservative Einstellung rechtfertigen. Im Laufe der Jahre bin ich auch konservativ geworden, christlich kommt noch dazu,  und eben deswegen sehe ich in der Gleichberechtigung die einzige Option für die Zukunft. Und übrigens, Jesus war ein durch und durch Feminist.


Mittwoch, 16. Oktober 2024

Tusk, Duda und die Grenze

 Premier Donald Tusk will das Recht auf Asyl in Polen „vorübergehend aussetzen“ und die Grenze zu Belarus weiter befestigen.  Deutsche Medien berichten darüber fast ausführlich. Fast. Denn sie vergessen hinzufügen, dass Tusk damit eine 180-Grad-Wende hinlegt. Genauso wie seine Fans hierzulande. Noch vor Kurzem überschlugen sich hiesige Politiker und Medien unisono  vor scharfer Kritik an die damals regierende PiS für angeblich inhumane Migrationspolitik, obwohl sich die PiS-Regierung zum derart radikalen Schritt (Tusk verkündet selenruhig, dass ihm die EU-Position dazu egal sei) nicht hinreißen ließ. 

Screenshots

Land der Freiheit und der Mann mit dem Herzchen 


Heute kommentierte im Sejm (polnisches Parlament) Tusks Wende Präsident Andrzej Duda:

„Ich freue mich, dass jetzt auch die Regierung von Premier Tusk zu den Verteidigern der polnischen Grenze zählt. (…) Besser spät als nie.“

Gleichzeitig kritisierte Duda aber das Aussetzen des Asylrechts.

„Dieser Schritt wird keineswegs helfen, die Grenzen dicht zu machen, sondern wird verhindern, dass belarussische Oppositionelle in Polen Zuflucht finden. Polen war, ist und hoffentlich bleibt ein Land der Freiheit und  Solidarität 

Putin und Lukaschenko versuchen, die Lage an unserer Grenze und in der EU zu destabilisieren, und Sie antworten darauf damit, dass sie denjenigen, die von Putin und Lukaschenko inhaftiert und verfolgt werden, das Asyl verweigern. Das ist ein fataler Fehler.“

Tusk antwortete darauf in seiner gewohnten Manier mit Beleidigung und Häme: der Präsident konnte nichts Blöderes sagen und es lohne sich überhaupt nicht, über seine Ansprache (übrigens eine sehr gute) zu debattieren. 

Donald Tusk trägt zwar gern das Herzchen am Revers, dennoch tritt er noch lieber unter die Gürtellinie.

Freitag, 11. Oktober 2024

Es geht um den Rechtsstaat, stupid!

 Einmal wieder zerrt man die PiS-Partei, zurzeit in der Opposition in Polen, ins Rampenlicht der Öffentlichkeit, und beschimpft, sodass ich rufen will: Hey, die PiS regiert nicht mehr, schaut euch endlich an, was die Tusk-Regierung veranstaltet!

Screenshot

Chaos und aktive Reue


Johannes Fechner, SPD, bezeichnet in seiner Rede im Bundestag die frühere PiS-Regierung als „autoritäre Machthaber“ und beschuldigt sie, das Verfassungsgericht lahm gelegt zu haben. 

Ähm, schon mal vom heutigen Zustand der Justiz in Polen Notiz genommen, Herr Fechner? Ich vermute, dass die Antwort Nein lautet. Denn kaum jemand behält in dem aktuellen Chaos den Durchblick. 

Wie es sich der Premier Donald Tusk den Rechtstaat vorstellt, lässt sich schwer sagen. Über Plattitüden kommt er nicht hinaus.  Er wolle das System verbessern, "damit man den Leuten Geld, Leid und Zeit ersparen kann". 

Diese Reform präsentiert dann, neben dem Premier stehend, der Justizminister und Generalstaatsanwalt Adam Bodnar. Was ihn hauptsächlich interessiert, ist die Abrechnung und Absetzung der sogenannten Neorichter (ernannt nach 2018). Er unterteilt jene in Funktionen in drei Kategorien (in Farben dargestellt - Grün, Gelb, Rot): Die erste Gruppe besteht aus Personen, "die keine andere Wahl hatten", weil sie frisch ihre Ausbildung beendet haben. Der Rest hatte diese Wahl und sich doch „für die Kariere nach 2018 entschieden". Wobei die einen nur, weil sie sich als Teil eines gemeinsamen Projektes gesehen haben. Ihre Beförderung wird jetzt rückgängig gemacht. Dagegen erscheint die letzte Gruppe als die schlimmste in Bodnars Augen: sie bewiesen nämlich „unwiderstehlichen Willen, in der Justizstruktur aufzusteigen“. Um überhaupt arbeiten zu dürfen, müssen sie ein Geständnis ablegen, dass dies „ein Fehler in ihrem Leben war“ und „aktive Reue“ (czynny żal) wie Verbrecher zeigen.

Gebrochene Rückgrate sind keine Reform 


„Wenn man in den Gerichten Säuberungen veranstaltet und den Richtern das Rückgrat bricht, dann handelt es sich um keine Reform, sondern um Diskriminierung“, lautet die Kritik von Richterin Monika Michalska-Marciniak, Initiatorin der Richtervereinigung „Aequitas“.

Im Gespräch mit der „Rzeczpospolita“ bemerkt die Richterin, dass es schon früher Versuche gab, einen politischen Einfluss auf die Richter zu nehmen. Aber Minister Bodnar diskriminiert Richter "im massiven Ausmaß". 

Die Reformpläne von Bodnar verblüffen sie:

„Ich konnte nicht glauben, dass ein Jurist, ein Professor einen derartigen Vorschlag legitimiert. Hier greift man in die Unabhängigkeit und Unabsetzbarkeit der Richter ein. Das alles widerspricht in eklatanter Weise der Verfassung. Meiner Meinung nach ist diese Ankündigung von Säuberungen (czystki) politisch motiviert. Sollte das gelingen, schafft man ein sehr gefährlicher Präzedenzfall für zukünftige Regierungen. Richter wird man dann unter jedem Vorwand absetzen können.“

Dudas Veto




 Präsident Andrzej Duda spricht sich entschieden gegen derartige Pläne aus. Auf einer wissenschaftlichen Konferenz am Obersten Gerichtshof sagte er:

"In einem demokratischen Rechtsstaat sind derartige Lösungen unzulässig, weil sie gegen die Verfassung verstoßen und Unabhängigkeit der Justiz verletzen. Ich versichere es Ihnen, dass ich bis zum letzten Tag meiner Amtszeit als Präsident derartige verfassungswidrige Regelungen mit allen mir zur Verfügung stehenden rechtmäßigen Mitteln verhindern werde." 

Unterdessen zählt Donald Tusk öffentlich die Tage bis zum Dudas Abschied, denn danach kann er machen, was er will.

Gott, steh uns bei!

Montag, 7. Oktober 2024

Das Attentat oder was Ursula von der Leyen mit der EU vorhat

 Die EU braucht einen neuen Anstrich. Viele sehen den Reformbedarf als dringend. Diesbezüglich lautet die wichtigste Frage: In welche Richtung soll sich unsere Gemeinschaft entwickeln?  Unterdessen warnt die polnische Zeitung "Rzeczpospolita" wortwörtlich vor dem Attentat, das von der Leyen auf das „Europa der Regionen“ vorbereitet. 


Screenshot

Zum Beispiel Bundesländer


Das Adjektiv "regional" erlebte in den letzten Jahren eine enorme Aufwertung. Regional sei ökologisch, nachhaltig, gut. Darf man das automatisch über "Europa der Regionen" behaupten? Dabei handelt sich hier um ein politisches Konzept, "das die Regionen innerhalb Europas unabhängig von den EU-Mitgliedstaaten fördern und in ihrer regionalen Eigenständigkeit unterstützen soll." (Wikipedia) Ein Beispiel von Regionen sind die deutschen Bundesländer.

Der größte Vorteil lässt sich leicht formulieren: Eine Region zeigt sich übersichtlicher als ein Staat und menschennah. Was hat also von der Leyen dagegen?

Einfach, flexibel, nicht gut?


Von der Leyen will nicht mehr und nicht weniger als das Ende der EU-Regionalpolitik, behauptet Anna Słojewska in der „Rzeczpospolita“. Die Autorin stützt sich auf die inoffiziellen Aussagen von Experten. 
„Ursula von der Leyen schlägt anstelle der bisherigen 530 Programme (davon 398 im Bereich der Kohäsionspolitik) 27 nationale operationelle Programme vor.“

Auf den ersten Blick wirkt der Vorschlag als ein Ausweg aus einem bestimmt chaotischen Zustand. Gleichzeitig aber ersetzt man das Regionale durch das Nationale. 

„In jedem dieser (nationalen) Programme sollten alle Ausgaben enthalten sein, die sich bisher aus der Kohäsions- und der Agrarpolitik zusammensetzen, einschließlich der Subventionen für die Landwirte. Diese Programme werden in Sektoren wie Verkehr, Energie, Landwirtschaft oder Inneres und Migration unterteilt. Es gehe dabei, laut von der Leyen, um Vereinfachung und Flexibilität.“

Lieblingsfeind an die Wand gemalt


Wieso soll dieses Vorhaben also gefährlich sein? Die Abgabe der Kompetenzen bedeute, dass viele Regionen über keine schlüssige Investitionsprogrammen verfügen werden, urteilt die „Rzeczpospolita“. Außerdem will von der Leyen  die Auszahlung der Gelder an die staatlichen Reformen anknüpfen, auch wenn Regionen darauf keinen Einfluss haben.  Was die „Rzeczpospolita“ aber besonders aufschreckt, ist folgendes Szenario: 

„Wenn die Staatsregierung eine andere politische Orientierung als die in der Region hat,  könnte sie die Verteilung von EU-Finanzmitteln als Belohnung für Parteifreunde missbrauchen. Stellen Sie sich diese Situation vor, die PiS kehrt an die Macht zurück und gibt den Woiwodschaften und Städten, wo die PO (Tusk-Partei) regiert, kein Geld.“

Wenn der Lieblingsfeind der EU und Donald Tusk kein Argument ist!