Dienstag, 10. Januar 2017

Wofür und wogegen – ein paar Gedanken zum Interview mit Gabriel

Im Interview, das Sigmar Gabriel neulich dem „Spiegel“ (Nr. 2/7.01.2017) gab, beschreibt er treffend Merkels Politik: „Merkels Prinzip war wegducken, Konflikte verschleiern, keine eigene Position beziehen. Ihr Ziel war, die Wähler einzuschläfern.“ Natürlich handelt es sich hier um eine Wahlkampf-Äußerung, richtig ist sie trotzdem.


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"Unvöllige" Gleichstellung?


Obwohl ich der obigen Aussage zustimme und genauso grundsätzlich das Beziehen eigener Position bei Merkel vermisse, will ich an die seltenen Fälle erinnern, wo sie es doch tat und sich unmissverständlich äußerte. Für mich gehört zu ihren wichtigsten derartigen Statements jenes vom 9.09.2013 in der Wahlarena. Damals gestand sie, "dass ich mich schwer tue mit der völligen Gleichstellung" von Homosexuellen bei der Adoption von Kindern. Gibt es also eine "unvöllige" Gleichstellung? 

Ihre Begründung hat es in sich: „Es geht um die Frage des Kindeswohles in solchen Beziehungen.“ Boah! Was für ein Hammerschlag! Sie unterstellt damit verallgemeinernd, dass die gleichgeschlechtlichen Paare nicht daran interessiert sind, und führt weiter aus: „Ich bin unsicher, was das Kindeswohl anbelangt, und diese Unsicherheit möchte ich zum Ausdruck bringen dürfen, ohne dass ich jemand diskriminieren möchte.“ Aber genau das tut sie: Sie diskriminiert auf eine fieseste Art. Sie spuckt jemandem ins Gesicht und grinst dabei, als wäre es der Regen.

Genauso „pragmatisch“ hätte eine Rechtfertigung geklungen, Stiefmüttern den Umgang mit den Kindern ihrer Partner zu verbieten, und dieses Verbot damit zu untermauern, dass in den Märchen schreckliche Stiefmütter auftreten und Kinder quälen. In diesem Fall wäre Merkel jedoch selbst betroffen. 

Im Ernst: Wer so oft wie Merkel über Menschenrechte redet und dann wegen einer sexuellen Orientierung eben diese Rechte einer Gruppe von Menschen abspricht, ist für mich genauso glaubwürdig, wie ein Priester, der Wasser predigt und Wein trinkt.

Rein in die Kartoffeln


Zum Bild einer bösen Stiefmutter passt das bekannte Gespräch mit Schülern in Rostock, als Merkel ein palästinensisches Mädchen zum Weinen brachte. Danach hagelte es Kritiken. Merkel hat daraus Konsequenzen gezogen und ihre Lektion gelernt, dass es nicht gut ankommt, wenn man Härte gegenüber den Hilfsbedürftigen zeigt (auch wenn sie gerecht ist). Im September 2015 änderte sie ihre Taktik diametral, als ob sie nach dem Motto gehandelt hätte: rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln.  

Mit der Grenzöffnung für Flüchtlinge – „Merkels Grenzöffnung“ - gewann sie Herzen von sehr vielen, mich eingeschlossen. Ich rechne Merkel sehr hoch an, was sie damals gemacht hat. Wo sie aber Einblicke in ihre persönliche Denkweise gewährt, erscheint sie mir auf einmal kleinkariert: Sie holt sich Rezepte für die Lösung der Finanzkrise von der schwäbischen Hausfrau oder Meinungen über gleichgeschlechtliche Paare vom Stammtisch. 

Dafür wird sie auch oft gelobt, weil sie so pragmatisch sei. Ich nenne es: Engstirnigkeit. 

Zweite Klasse


Merkel ist dennoch lern- und wandlungsfähig. Genauso wie ihr Herausforderer Sigmar Gabriel. Im erwähnten Spiegel-Interview erzählt er, wie er Merkel gefragt hat: „was eigentlich teurer für Deutschland ist: wenn Frankreich einen halben Prozentpunkt mehr Defizit machen darf oder wenn Marine Le Pen Präsidentin wird?“ Auf seine Frage bekam er keine Antwort. Auf derartige Fragen hat eine schwäbische Hausfrau keine Antworten.

Welche Antworten können wir von Sigmar Gabriel erwarten? Er will den Zusammenhalt der Gesellschaft stärken und „dafür sorgen, dass Stadtteile nicht verwahrlosen, Dörfer nicht verkommen und Menschen sich nicht immer mehr radikalisieren.“ Auf den ersten Blick überzeugt dieser Plan. Bekanntlich steckt aber der Teufel im Detail. Daher interessiert mich sehr, was Gabriel zu Hartz IV zu sagen hat – einem System, das Menschen aus der Gesellschaft ausschließt und aufs Abstellgleis manövriert. Wer über den Zusammenhalt sinniert, soll unbedingt eine Lösung auch dafür vorschlagen.

Dass sich die Ungleichheit auf „immer mehr Lebensbereiche“ erstreckt, weiß Gabriel bereits und beschreibt die Situation folglich: „Wer es sich leisten kann, schickt seine Kinder auf eine Privatschule. Es wird nicht mehr zwischen den Schichten geheiratet. Und wer nicht in der Stadt, sondern auf dem Land lebt, fühlt sich gelegentlich als Mensch zweiter Klasse.“

Das Gefühl, ein Mensch zweiter Klasse zu sein, ist leider weit verbreitet. Es ist kein gutes Gefühl und dazu noch ein sehr politisches.