Dienstag, 30. August 2022

Das 9-Euro-Ticket kurz vorm Ende? An der Grenze. Teil 4A

 Die Unbekannte begrüßt mich fröhlich auf Polnisch, deswegen antworte ich auch so. Gleich jedoch merke ich, dass sie nur wenige Brocken beherrscht. Wir unterhalten uns weiter auf Deutsch, im fast leeren Zug, früh am Morgen.

Die Rollen im Gespräch scheinen von Anfang an unmissverständlich verteilt zu sein: ich bin die Zuhörerin, sie erzählt von der Gegenwart und Vergangenheit auf dem Weg nach Heringsdorf. Von dort stammt ihre Mutter.

„Wohnen Sie da?“ – eher vergewissere ich mich, als frage.
„Nein“ – sie schüttelt den Kopf. – „Ich lebe in Berlin.“

Genau wie ihre 98-jährige Mutter, die sie jeden zweiten Tag besucht und der es zuletzt nicht gut geht. Zu Hause wartet auf sie ihr Mann, krebs- und herzkrank.

 Es wurde ihr alles zu viel. Sie musste einen klaren Kopf kriegen, auf andere Gedanken kommen. Deswegen tat sie, was sie jedes Jahr getan hat, und fuhr nach Świnoujście, wo sie sich immer im gleichen Hotel erholt.

Mein Plan sah ganz anders aus: ich wollte bereits an der ersten Haltestelle aussteigen und die ehemalige Grenze aus der Nähe betrachten. 

Ich verwerfe den Plan bereitwillig und höre mir die Lebensgeschichte der Unbekannten.

Dank ihrem Vater hat sie den Beruf Elektrotechniker gelernt. Der Vater überzeugte sie mit dem Argument: „Du wirst immer Geld haben.“ Er unterstützte sie – beide arbeiteten im gleichen Betrieb – bei ihrem Fernstudium. Zu der Zeit hatte sie schon ihre Zwillinge. Später folgten noch einmal Zwillinge. Ihr Studium dauerte sieben Jahre.

„Nicht fünf?“ – hake ich nach.
„Das war ein Fernstudium, deswegen dauerte es sieben Jahre und jedes Wochenende musste ich zu Pflichtseminaren hinfahren.“
„Jedes Wochenende? Und unter der Woche haben Sie gearbeitet?“ 
„Ja. Ganze sieben Jahre. In der DDR haben alle Frauen gearbeitet, nicht wie im Westen, wo bis in die 70-ger Jahre der Ehemann oder Vater darüber entschieden hat, ob die Frau eine Beschäftigung aufnehmen durfte oder nicht.“

Danach arbeitete sie als Lehrerin. Schließlich landete sie in der Akademie der Wissenschaften, in der sie für die Organisation von Dienstreisen verantwortlich war. Die wurden gelegentlich zweckentfremdet und unter einem Vorwand für die touristischen Trips genutzt.

„Aber nicht in den Westen“ – murmele ich ungläubig.
„Doch“ – widerspricht sie und schildert, wie es funktionierte. Dafür wählt sie aber kein westliches Beispiel.

So verhalf sie ihrem Mann zur Erfüllung seines Traums. Er befolgte ihrem Rat, sammelte Fahrräder und transportierte sie als Spende nach Vietnam, das er besichtigen wollte.

Bevor sich unsere Wege in Heringsdorf trennen ...



... verrät sie mir, wie man solch ein hohes Alter (sie sei 80) erreicht:

„Dafür braucht man viel Humor. Deswegen fahre ich auch nach Świnoujście, wo die Menschen lachen, und nicht nach (hier fällt ein deutscher Name, den ich mit Absicht verschweige), wo man nur grimmig guckt.“

Vielleicht liegt es zum Teil daran, dass in Polen niemand (auch nicht die Deutschen, die dort verweilen) eine Maske trägt.

Vorausgehend:





Nachfolgend:



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