Mittwoch, 14. Januar 2015

Das Leid der anderen

„Flüchtlinge! - die alte Dame schnauft und stützt sich schwer auf ihre Krücke – Alle reden über die Flüchtlinge und über ihr Leid. Wir haben auch gelitten! Aber über uns spricht keiner mehr!“ Sie sieht mir in die Augen und wartet. Ich halte ihren aufdringlichen Blick und schweige. Über das Thema Leid lässt sich schwer diskutieren. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als ihr zuzuhören, einer fremden Person, die ich zum ersten Mal hier in der Straßenbahn sehe. Ich sinniere dabei über ihre Beweggründe. Hinter ihrem Vorwurf entdecke ich weniger das Verständnis für ähnliche Erlebnisse, vielmehr bringt sie ihre Enttäuschung zur Sprache, dass ihre Qual nicht an der Spitze des Rankings der Aufmerksamkeit steht. Ein durchaus menschlicher Wunsch, wenn man nicht vergessen kann und die schlimmen Erlebnisse - das Trauma - mit sich herumträgt.


Können wir das fremde Trauma nachempfinden?


Wie soll man die verschiedenen Traumata vergleichen? Lassen sich das eigene und das fremde Leid gegeneinander abwägen? Die Frage klingt absurd, dennoch versuchen wir alltäglich eben das zu tun. Wir schätzen das eigene und das fremde Elend ab, als wenn es sich um gewöhnliche abzählbare Dinge wie Brötchen gehandelt hätte. Durch diese Trivialisierung glauben wir einerseits, das Phänomen in den Griff zu bekommen. Anderseits demonstrieren wir dadurch die Unfähigkeit, den fremden Schmerz nachzuempfinden. Diese Aufgabe ist umso schwieriger, da die Traumatisierten meist lange schweigen und nicht selten Jahrzehnte brauchen, bis sie über das Erlebte sprechen können. Wir wissen nicht, was in ihnen vorgeht. Wir verstehen sie nicht und das macht uns Angst.

Schweigen in der Endlosschleife


Wieso schweigen die Traumatisierten, manchmal ihr ganzes Leben lang? Warum zeigen sie nicht sofort mit dem Finger auf die Täter? Weshalb ziehen sie sich zurück und erstarren in ihrem Leid, als ob sie sich in einer Endlosschleife verfangen hätten? Das Verhalten der Traumatisierten erscheint den Außenstehenden meist unverständlich, widersprüchlich, bizarr.  Dennoch behält es eigentlich die logischen Grundsätze bei. Die verrückte Spinnerei der Traumatisierten bestätigt auf eine krude Weise, dass es diese Regel gibt.

Der erlebte schockierende Vorfall lässt sich nicht in die Worte fassen, weil er mit keiner früheren Erfahrung korrespondiert. Eine traumatisierte Person wurde auf diesen Einschnitt in ihr Leben nicht vorbereitet. Er übersteigt alles - das Gesehene, Gefühlte, Gelittene -, was bis jetzt passierte. Das Trauma sprengt alle Grenzen und hinterlässt die Trümmer der bekannten Welt. 

Worte finden


Nach den adäquaten Worten zu suchen und dem Trauma dadurch ihre enorme zerstörende Kraft zu entziehen, bleibt die wichtigste und schwierigste Aufgabe für diejenigen, die die Hölle auf Erden erlebt haben. Jene Aufgabe erfordert wirklich viel Mut, weil es um eine Auseinandersetzung  mit dem vergangenen Unheil geht.  

Muss man wirklich nochmals diese Hürde nehmen? Ja, wenn sich das Trauma nicht in den eigenen Kosmos integrieren lässt und das alltägliche Leben weitgehend stört. Außerdem vererbt man sie durch eigenes Verhalten auch an die Kinder und Kindeskinder. So entstehen ganze traumatisierte Generationen. 

Daher ist die Frage „Wessen Leid wichtiger ist?“ nicht relevant, sondern wie wir als Gesellschaft mit den Traumatisierten umgehen und welche Hilfestellung wir ihnen leisten. Ein persönliches Trauma ist mitnichten einzig und allein ein persönliches Problem. Es wirkt sich auf seine Umgebung und kann weite Kreise ziehen.

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