Dienstag, 16. Oktober 2018

Tacheles gegen Potemkinsche Dörfer

Ich mag das Wort Tacheles. Es klingt nach Klarheit und Sachlichkeit: nicht um den heißen Brei herum, sondern direkt zur Sache kommen. Dahinter versteckt sich auch die Sehnsucht nach der Wahrheit. Ich weiß, wie pathetisch diese Behauptung wirkt. Haben wir aber nicht lange genug in den Potemkinschen Dörfern gelebt?


                                                             Wir müssen neue Wege betreten. Eigenes Foto

Feigenblätter für die Nacktheit


Potemkinsche Dörfer verstecken  hinter den schönen Fassaden die raue Wirklichkeit. Die Wahrheit ist per definitionem immer nackt. Wer will sich jedoch freiwillig ungeschützt zur Schau stellen? Es geht mir natürlich nicht um das Entblößen für die Fotos in der Bild-Zeitung.

Wir verstecken uns gerne hinter verschiedenen Feigenblättern, seitdem wir aus dem Paradies, wo die Unschuld nackt schlenderte, verbannt wurden. Die Märchen, die wir über unsere Freundschaften, Ehen, Jobs usw. erzählen, bleiben in Wahrheit nur Märchen.

Dafür das große Wort Lüge zu bemühen, ist überflüssig wie ein Kropf. Es handelt sich vielmehr um die weitgehend verbreiteten und akzeptierten Chiffren oder Narrative, die man sozusagen geschenkt von seinem Umfeld bekommt. Ob wir es wollen oder nicht, färbt unsere Umgebung auf uns ab. Viel wichtiger ist aber, dass wir das Phänomen der Verschönerung erkennen.

Virtuell und real


Politiker sind meist Verschönerer von Beruf. Was sie berühren muss größer, besser, schneller, effizienter usw. sein. Natürlich nicht in Wirklichkeit. Als ob sie sich in einer Welt eines nie endenden Wettbewerbs des Schönredens befänden. Als ob? Oder geht es in der Politik fast ausschließlich um die Rivalität der Parolen, wobei sich kaum einer um die Verbindung zur Realität kümmert? (Ja, ich weiß, ich übertreibe in diesem Punkt unverschämt.)

In der heutigen Zeit, wo wir bereits in die Zukunft schauen können, erschöpfen sich unsere Bedürfnisse nach virtuellen Landschaften und Identitäten in den sozialen Medien. Von der Politik erwarten wir dagegen keine Märchen mehr, sondern Sachlichkeit: überprüfbare Pläne und realisierbare Projekte. Dafür braucht man auch eine Vision der Zukunft.

In den sozialen Medien antrainierte Frechheit (oder Mut, je nachdem) im Ansprechen von allen möglichen Themen stößt hier auf die alten politischen Rituale. Dass es dabei heftig bebt, darf es nicht wundern. Dieser Zusammenstoß wälzt unsere bis dato bekannte Welt um, mit unbekanntem Ausgang.

Betonung auf ganz


Die Politik und die Gesellschaft müssen neue Wege betreten. Vor allem brauchen wir einen neuen Vertrag zwischen den Vertretern und den Vertretenen: zwischen Politik und Gesellschaft. Wir brauchen ganzgesellschaftliche Diskussionen, mit Betonung auf ganz. Wir brauchen Tacheles sowohl bei der Bestandsaufnahme als auch bei der Auswahl der Lösungen.

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