Montag, 23. November 2015

Dafür oder dagegen: wie wir unsere Meinung meinen

Ich habe meine Meinung. Ich ändere sie auch. Wenn die Situation sich verändert. Oder ich. Zum Beispiel zu Merkel. Ich hätte nie vermutet, dass sie in der Flüchtlingskrise so viel Rückgrat zeigen wird. Von ihrer überzeugten Gegnerin, bin ich deshalb zur genauso überzeugten Befürworterin geworden. Ich schäme mich nicht deswegen. Nur eine Kuh ändert ihre Meinung nicht. Die Menschen schon. Sonst wäre keine Diskussion möglich. Wir wollen unsere Position vertreten, sind aber dabei bereit, die Gegenargumente wenigstens zu überlegen und einen Kompromiss zu schließen. Von unserem Standpunkt also abzuweichen.

Ich glaube an Menschen. Immer noch. Ich glaube, dass sie lernfähig sind. Dass sie aus den Erfahrungen lernen und folglich Konsequenzen ziehen. Vielleicht nicht sofort und nicht so spektakulär wie vom Saulus zum Paulus. Dennoch bin ich überzeugt, dass das Erlebte uns formt und verformt: mal zum Guten, mal zum Schlechten.



Meinen wir unsere Meinung?


Die wichtigste Eigenschaft der Meinungen ist für mich ihre Eigenständigkeit. Dass sie von einem Menschen selbst getroffen und nicht auf irgendeine Art erzwungen wurden. Dass sie frei sind. Ja, ganz schön naiv. Auf dieser Stelle will ich erwähnen, dass die Naivität jene charakterliche Unzulänglichkeit ist, die Karl Marx bereit war, am schnellsten zu verzeihen.

Mit dem Segen vom Papa Marx sinniere ich also weiter über die Selbständigkeit unserer Meinungen. Sie entstehen nicht in einem Vakuum. Wir lassen uns ständig beeinflussen: im besten Fall von Personen und Medien unserer Wahl. Wir hören auf die Argumente der Vernunft oder unser Bauchgefühl. Meinen wir jedoch wirklich das, was wir als unsere Meinung äußern?  

Teamgeist oder Netzgehorsam 


Ein gutes Team besteht aus unterschiedlichen Individuen, die sich in ihrer Verschiedenheit respektieren.  Sie haben ein gleiches Ziel, was nicht bedeutet, dass sie sich auch außerhalb ihrer Aufgabe angleichen müssen. Teamfähigkeit bedeutet für mich nichts anders als die Fähigkeit zum würdevollen Umgang mit den anderen, die anders denken und ticken. Im Idealfall. 

In einer Gruppe entwickeln sich Ambitionen und entstehen Kräfte, die sich in einer breiten Palette der Prozesse von der Gruppendynamik bewegen. Abhängig von den Machtverhältnissen, die sich etablieren, wird die Gruppe das selbständige Denken fördern oder bekämpfen. 

Diese Phänomene kann man auch im Netz beobachten. So bilden sich in den verschiedenen sozialen Medien Gruppen, die von ihren Mitgliedern explizit oder implizit Gehorsam erwarten oder verlangen. Nach diesem Prinzip funktionieren beispielsweise die Shitstorms. Bei den Themen, die die Gemüter erhitzen, geben die „Rudelführer“ die Parole aus und erzeugen Druck, in der Aktion mitzumachen. Nach dem Motto: Wer nicht dabei ist, der ist gegen uns. Es handelt sich hier um keine Abstimmung, sondern um einen Sog.  Der neueste Fall des Shitstorms nach der ESC-Nominierung von Xavier Naidoo zeigt, dass sich diesem Druck sogar die Entscheidungsträger der Fernsehanstalt beugen.  

Sonntag, 1. November 2015

Ordnung auf dem Markt oder Regeln ohne Regeln

Wollen wir uns wirklich an die Regeln halten? Wir verlangen grundsätzlich, dass die anderen dies tun und empören uns, wenn dies nicht der Fall ist. Wie im Straßenverkehr: Soll eine/einer bloß versuchen, sich so zu verhalten, wie wir selbst!

                                                                                                                       Lupo  / pixelio.de

Markt im Mittelpunkt


Was wäre das für ein Leben ohne Regeln, wenn wir uns ausschließlich um unsere Wünsche gekümmert hätten, ohne Rücksicht auf die Auswirkungen auf die anderen. Der Mensch wird zum Menschen  nur unter den Menschen. Wir sind soziale Wesen.

Eine Gemeinschaft kann nicht ohne Regeln existieren. Wir brauchen eine Ordnung. Am besten eine, die an die Menschenrechte angelehnt ist. Wie die unsere? Da habe ich meine großen Zweifel. Die Gesetze, die für alle gelten sollen, können wir zwar verlangen und sogar auf dem Papier bekommen. Dennoch klaffen die Theorie und die Praxis zu oft auseinander. Unsere Demokratie, durch den Markt definiert, hält im Grunde nicht besonders viel von gleichen Rechten. Nicht der Mensch mit seinen Rechten steht im Mittelpunkt, sondern… der Markt selbst.

Druckmittel Hartz IV


Der Markt benötigt ein Druckmittel, damit die Menschen ihre Arbeitskraft unter ihrem Wert verkaufen und sich wie eine Zitrone auspressen lassen. Weil wir in einem zivilisierten Land leben, erfahren wir ein ziemlich zivilisiertes Druckmittel: Seit über 10 Jahren heißt es Hartz IV. Der gnädige Staat lässt den Empfängern Beträge zukommen, die vorm Sterben zwar schützen, zum Leben aber nicht reichen. 

Hartz IV ist ein ideologisches Produkt des Marktes (von den Steuerzahlern allerdings finanziert), das eine soziale Leistung lediglich vortäuscht. Kein Wunder, dass die Wirtschaft es lobt. Die Angst vor dem hoffnungslosen Vegetieren diszipliniert die Arbeitskräfte besser, als jede bisherige Androhung. Wer in Hartz IV abrutscht, kommt nicht mehr heraus. Die Maßnahmen, die die Empfänger angeblich daraus holen sollen, wirken überhaupt nicht. Hätte ein Arbeiter derartig erfolglose Arbeit geleistet, würde er eine Probezeit nicht überstehen. Die erfolglosen staatlichen Institutionen dagegen bestehen nach wie vor: Ihre Aufgabe müsse demnach nicht heißen, die Hartz-IV-Empfänger in Arbeit zu bringen, sondern sie dem Markt vom Hals zu halten. Man soll Hartz IV als eine Art Strafkompanie verstehen, wobei die Strafe lebenslänglich dauern soll.


Wer regiert hier eigentlich? Wirtschaft pfeift, Ministerium muss tanzen


Dass die Wirtschaft uns zeigen soll, wo es lang geht, sei fundamental, sonst könne man nichts verteilen – behaupten die Befürworter des schwachen zurückgezogenen Staates. Der Markt wird schon richten. Tut er aber nicht, antworten die Gegner dieses Konzepts und die Fürsprecher eines starken alles entscheidenden Staates. 

Wo befinden wir uns auf der Skala zwischen diesen zwei Extremen? Ich behaupte, dass wir verdammt nah der Wirtschafts-Autokratie sind.  Beweise gefällig? Ich nenne hier zwei ungleiche, aber symptomatische Beispiele: 

1. Die geheimen Lobbyisten, die einen uneingeschränkten und unkontrollierten Zugang zum Parlament haben. Der Bundestag weigert sich nach wie vor, die vollständigen Listen zu veröffentlichen. Weil er sich nicht seinen Wählern, die die Transparenz verlangen, sondern der Wirtschaft verpflichtet fühlt? 

2. Und noch ein kleines aber durchaus spektakuläres Beispiel der Macht der Wirtschaft: In der Schriftenreihe „Themen und Materialien“ der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) erschien der Band „Ökonomie und Gesellschaft“. 

Ob diese Lektüre spannend oder nicht ist, erfahren wir nicht, weil das Bundesministerium des Innern den Vertrieb dieser Publikation vorläufig verboten hat. Und zwar auf Initiative der Arbeitgeberverbandes (BDA)! Den Arbeitgebern haben es weder die kritische Perspektive auf wirtschaftspolitischen Lobbyismus noch alternative wirtschaftliche Ansätze gefallen. Dies hat für das Verbot gereicht, das Ministerium reagierte sofort.